BFH-Urteil v. 02.02.2022, I R 22/20: Der BFH hat Cum/Ex-Geschäfte nicht generell für unzulässig erklärt

Ungeachtet einiger medialer Einschätzungen, der „Bundesfinanzhof [habe nun] Cum-Ex-Geschäfte für unzulässig erklärt“, enthält das kürzlich ergangene BFH-Urteil (v. 02.02.2022, Az. I R 22/20) keine derart pauschale Aussage, sondern dient viel eher zur weiteren Klarstellung in einem Einzelfall. Dessen ungeachtet lassen sich durchaus einige, im Urteil anklingende Ansichten des BFH zum Thema Cum/Ex verallgemeinern.

I. Überblick zu den Kernaussagen BFH-Urteil v. 02.02.2022, I R 22/20

Das Urteil enthält folgende Kernaussagen, die bereits in den Leitsätzen anklingen:

  1. „Ob sich die maßgebenden Transaktionen „außerbörslich“ (Erwerb von sog. Single Stock Futures mit nachfolgender Abwicklung über die Eurex Clearing AG) oder „börslich“ (im Rahmen sog. Schlussauktionen abgespielt haben, ist insoweit ohne Bedeutung.“ (Leitsatz 2, S. 2)
  1. Ein Zurechnung des wirtschaftlichen Eigentums an den Aktien am HV-Tag erfolgt nicht, wenn der Erwerb der Aktien Teil eines „modellhaft aufgelegten Gesamtvertragskonzeptes“ ist, nach welchem der zivilrechtliche Erwerber angesichts der umfassenden Kontrolle jedes Geschäftsdetails durch Dritte lediglich als „passiver Teilnehmer“ („Transaktionsvehikel“) im Geschäftsablauf anzusehen ist. Die markierten Begrifflichkeiten hat der BFH  (in Anlehnung an den BGH) neu entwickelt und diese könnten damit entscheidende Abgrenzungsmerkmale im Rahmen von Cum/Ex-Geschäften werden. Vorliegend hatten die Beteiligten ihre jeweiligen Rollen in einem „Give Up-Agreement“ konkret vereinbart (siehe II.).
    Zudem folgt der BFH dem FG Köln (Urteil v. 19.07.2019, 2 K 2672/17, EFG 2020 S. 367 Nr. 5 in der Ansicht, dass eine Anrechnung der Steuer voraussetzt, dass die Steuern „einbehalten und abgeführt wurden“. Dies war zuvor unklar, die Finanzverwaltung vertrat lange die Ansicht, dass der Steuereinbehalt für die Steueranrechnung ausreichen würde. Der BFH verneint dies nun, folglich bedarf es auch der Steuerabführung vor jeder Steueranrechnung. 
  1. Der BFH erwähnt außerdem beiläufig, dass der Zweck der Abzugsteuer eine nähere Prüfung der Erstattungsvoraussetzungen und damit auch der Steuerabführung vor jeder Steueranrechnung voraussetzt. Das ist deswegen beachtlich, da diese Prüfung sachlogisch von dem Empfänger der Steuerzahlung und damit von der Finanzverwaltung durchzuführen ist. Wer sonst sollte den tatsächlichen Eingang der bescheinigten Steuerbeträge abschließend prüfen können? Wie heute anzunehmen ist, war jene Prüfung systemseitig nicht vorgesehen bzw. wurde seitens der Finanzverwaltung vor vielen Anrechnungsverfügungen schlicht und einfach nicht durchgeführt. Sollte sich dies als nachweissicher herausstellen, würde daraus allem Anschein nach eine Verletzung des gesetzlichen Pflichtenprogrammes der jeweils handelnden Behörde resultieren – mit weiteren gewichtigen Konsequenzen für etwaige Verfügungen auf Grundlage von § 130 Abs. 2 AO, welche die Anrechnung jener Steuerbeträge pauschal zurücknahm.

II. Kurzfassung des Sachverhaltes

Kläger war ein US-Pensionsfonds, der zusammen mit zwei anderen US-Pensionsfonds an einer Personengesellschaft nach dem Recht von Gibraltar (B) ohne Geschäftsführungsbefugnisse beteiligt war (jeweils 1/3 Beteiligung). Die Personengesellschaft (B) führte die Aktientransaktionen durch und war in Deutschland als für Ertragssteuerzwecke transparent qualifiziert worden. Deswegen klagte der Pensionsfonds als einer der Gesellschafter der Personengesellschaft B auf Verpflichtung des Bundeszentralamtes für Steuern (BZSt), die bescheinigte Kapitalertragsteuer nebst SoliZ zu erstatten.

Anmerkung: Dieser Fall unterscheidet sich also grundlegend von den Fällen, in den zunächst die Steuerbeträge infolge von Anrechnungsverfügungen erstattet wurden und diese Anrechnungen später infolge von Rücknahmeverfügungen seitens der Finanzverwaltung zurückgefordert wurden.

Die U-Limited war haftungsbeschränkte Geschäftsführerin der B und beauftragte nun die C UK Ltd. als Investment-Manager mit der Koordinierung der Aktientransaktionen. Letztlich waren folgende rechtliche Geschäftsbeziehungen in einem „Give up-Agreement“ mit allen Beteiligten (B, C, Interdealerbrokern, D-Bank als General Clearer) fest vereinbart:

C Uk Ltd. platzierte im Auftrag von Personengesellschaft B die (außerbörslichen) Kaufverträge bei Interdealerbrokern, die Zugang zu Eurex / Xetra hatten.

Die D-Bank Ltd., Sydney/Australien, diente als General Clearer und ging insoweit mit der Eurex Clearing AG (CCP) ein Deckungsgeschäft ein. Der BFH nimmt mit Abschluss dieses Deckungsgeschäftes eine Novation an, eine selten verwendete juristische Besonderheit, nach der die ursprünglichen Vertragsverhältnisse (alle) erlöschen und zugleich ein unmittelbares Vertragsverhältnis zwischen B und der Eurex Clearing AG in diesem Zeitpunkt zustande kommt.

Gegenstand der Transaktionen waren

überwiegend Single Stock Future-Kontrakte, die außerbörslich bilateral geschlossen wurden (OTC) und anschließend über die trade Entry-Funktionalität ins Eurex System eingegeben wurden. Die D-Bank fungierte als Prime Broker; physische Belieferung; ohne direkte Rechtsbeziehung zwischen Käufer und Verkäufer.

Zeitgleich wurden Future-Kontrakte zur Absicherung abgeschlossen (Future Verkauf/Put); vereinbart war: „ex Dividende“ und Barausgleich/cash settlement.

Nach Vollzug der Transaktion wurde der Future Verkauf wiederum durch den Erwerb eines Future Kaufs/Call kompensiert bzw. abgesichert; vereinbart war ebenfalls Barausgleich/cash settlement.

Die Abwicklung der Transaktionen mit Barausgleich/cash settlement erfolgte über die D-Bank (Clearing Broker). Depotbank war die R-Bank, Irland, die wiederum Erfüllungsgehilfen (Niederlassung Deutschland) einschaltete. Letztere stellten dann als Verwahrstelle der Aktien die „Gutschriftenanzeigen“ (Credit Advices) – bislang häufig als Steuerbescheinigungen bezeichnet – aus.

Ein geringfügiger Teil der Aktien wurde über Schlussauktionen/Closing Auctions erworben.

Die Finanzierung der Geschäfte bei B beruhte u.a. auf Finanzierungsbeiträgen des E-Fund, einem durch die Schweizer K-Bank aufgelegten Investmentfonds nach luxemburgischen Recht  („SICAV“), der mit B Equity Performance Contracts (Swaps) abschloss und dafür eine kurzfristige Rendite von 15,72% zugesagt bekam. Der E-Fund hatte Verkaufsprojekte erstellt, um Kunden zur Geldanlage in die Swaps zu überzeugen. Teil der Anlagestrategie war laut der Prospekte, dass Pensionsfonds eine bevorzugte Behandlung nach den für diese einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen erhielten.

Anmerkung: Neben diesen Fällen, in denen die Rollen der Beteiligten allem Anschein nach klar vereinbart waren und damit unter Kenntnis der Beteiligten abliefen – und die der BFH zurecht als „modellhaft aufgelegte Gesamtvertragskonzepte“ qualifiziert, gibt es eine Vielzahl anderer Fälle, die diese Voraussetzungen gerade nicht erfüllen. Hierzu wird es weiteren Rechtsprechungsbedarf geben. Deswegen ist der medialen Einschätzung in dieser Pauschalität nicht zu folgen, dass der „Bundesfinanzhof Cum-Ex-Geschäfte für unzulässig erklärt“ habe.

Mit Bescheid vom 27.09.2017 lehnte das Bundeszentralamt für Steuern das Anrechnungsbegehren des Klägers ab. Die nachfolgende Klage vor dem FG Köln war erfolglos. Der BFH hat die Revision mit diesem Urteil abgewiesen, er hält den Ablehnungsbescheid für rechtmäßig und sieht den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt an.

III. Vertiefende Betrachtung: Kernaussagen des BFH-Urteils v. 02.02.2022, I R 22/20

Die bislang seitens der Finanzverwaltung und des Hessischen Finanzgerichts vorgebrachte Argumentationslinie, dass „OTC-Geschäfte“ automatisch auf Leerverkäufe und einen „Nicht-Einbehalt“ der Steuer hinwiesen, hat der BFH mit folgendem Leitsatz weitgehend entkräftet:

Ob sich die maßgebenden Transaktionen „außerbörslich“ (Erwerb von sog. Single Stock Futures mit nachfolgender Abwicklung über die Eurex Clearing AG) oder „börslich“ (im Rahmen sog. Schlussauktionen abgespielt haben, ist insoweit ohne Bedeutung.“

Der BFH stellt bereits im 1. Leitsatz fest, dass ein Anspruch auf Erstattung von Abzugsteuer (hier nach § 50d Abs. 1 S. 2 EStG wegen grenzüberschreitendem Sachverhalt) nur dann besteht, wenn der Gläubiger der Kapitalerträge diesen geltend macht und die Abzugsteuer „einbehalten und abgeführt“ worden ist. Bislang hieß es seitens der Finanzverwaltung, es würde reichen, wenn die Steuer einbehalten worden wäre – auf die tatsächliche Abführung käme es folglich nicht an.

Gläubiger der Kapitalerträge ist die Person, welche die Einkünfte (beispielsweise Dividendenkompensationsleistungen) erzielt (§ 20 Abs. 5 EStG) und das ist wiederum die Person, welche die Anteile am Kapitalvermögen im Zeitpunkt des Zuflusses der Dividendenkompensationsleistung zivilrechtlich oder wirtschaftlich zuzurechnen sind. Erneut befasst sich der BFH ausführlich mit der Frage des wirtschaftlichen Eigentums an girosammelverwahrten Aktien, um am Ende zu folgender Leitsatz-Aussage zu kommen:

Leitsatz 2: „Wirtschaftliches Eigentum über die Anteile wird bei sog. Cum/Ex-Geschäften nicht erworben, wenn der Erwerb der Aktien Teil eines modellhaft aufgelegten Gesamtvertragskonzeptes ist, nach welchem der zivilrechtliche Erwerber die wesentlichen mit einem Aktienerwerb verbundenen Rechte weder ausüben kann noch nach der gestalterischen Konzeption soll, er vielmehr nur die Funktion hat, seine (aufgrund Abkommensrechts gestaltungsermöglichende) Rechtsform in den Geschäftsablauf einzubringen und angesichts der umfassenden Kontrolle jedes Geschäftsdetails durch Dritte lediglich als „passiver Teilnehmer“ („Transaktionsvehikel“) im Geschäftsablauf anzusehen ist.“

Anmerkung: Der BFH führt die beiden markierten Begrifflichkeiten ein. Das modellhaft aufgelegte Gesamtvertragskonzept sieht er als vor dem o.g. Sachverhalt und insbesondere vor dem nachweislich von den Beteiligten abgeschlossenen „Give up-Agreement“ als erfüllt an und innerhalb des modellhaften Gesamtvertragskonzeptes spielt der anrechnungsbegehrende Kläger nur die Rolle als Transaktionsvehikel – hat also weder Entscheidungsbefugnisse noch eine sonstige wirtschaftliche Dispositionsbefugnis über die Aktien am HV-Tag. Der BFH rechnet folglich das wirtschaftliche Eigentum an den Aktien nicht zu. Die Einkünfte sind dann als sog. Dividendenkompensationsleistungen abzugssteuerpflichtig und der Kläger gilt nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 4 EStG als Gläubiger der Kapitalerträge, obwohl ihm kein wirtschaftliches Eigentum zugerechnet wird.

Etwas versteckt findet sich ein weiterer Satz in Rz. 63 des Urteils. Dort heißt es: „Denn der insoweit eindeutige Gesetzeswortlaut entspricht dem […] angelegten Zweck der Abzugsteuer, das inländische Besteuerungssubstrat (vorerst) zu sichern und die (nachfolgende) Erstattung von einer näheren Prüfung der Erstattungsvoraussetzungen abhängig zu machen.“  Das ist wohl ein Hinweis darauf, dass die Finanzverwaltung vor der Anrechnung der Steuer hätte prüfen müssen, ob die Anrechnungsvoraussetzungen vorlagen, konkret, ob die Steuer einbehalten und abgeführt wurde. Sofern das Finanzamt diese Prüfung nicht vornahm, trägt es ein maßgebliches Mitverschulden an den Folgen.

Sofern Sie in solchen Fällen selbst als Beteiligte involviert sind, freuen wir uns über jeden Gedankenaustausch, um ähnliche Cum/Ex-Fälle im Sinne der Rechtspflege einer sachgerechten Lösung zuzuführen.